Gedenkort an den Ort Tzschelln bei Weißwasser, der Ende der 1970er Jahre für den Tagebau Nochten abgebaggert wurde.

Sachsen Abgebaggert in der Lausitz, aber nicht vergessen: "Da kommen mir einfach die Tränen"

Stand: 14.06.2025 16:00 Uhr

Mehr als 130 Dörfer sind seit 1924 in der Lausitz wegen der Braunkohle abgebaggert worden. Jedes Jahr am zweiten Sonnabend in Juni wird an sie mit einem Gedenktag erinnert. Auch aus Tzschelln bei Boxberg mussten Mitte der 1970er-Jahre fast 300 Menschen umsiedeln. Anders als heute bekamen sie kein neues Dorf als Entschädigung, sondern mussten an verschiedene Orte der Umgebung ziehen. Trotzdem ist der Zusammenhalt auch heute noch groß und die Erinnerungen lebendig.

Von Viola Simank, MDR SACHSEN

Den alten Brunnen seines Elternhauses hat Martin Zschippang erst vor kurzem wiederentdeckt. Fast 50 Jahre nachdem er und seine Familie ihr Grundstück am Rand von Tzschelln verlassen mussten. Anders als der Ortskern wurde es wie einige andere Häuser an der Tagebaukante nicht abgebaggert. "Die haben damals nur alles abgerissen. Aber unser Brunnenloch ist geblieben. Ich weiß noch genau, wo die Gebäude standen, wo der Eingang war", erzählt der 67-Jährige.

Abschied mit 18 Jahren

Martin Zschippang zieht es heute immer wieder an den Ort, an dem er seine Kindheit verbracht hat. Damals, als sie 1974 ihr Haus verlassen mussten, war er 18 Jahre alt. Es lag idyllisch an der Spree. Seine Eltern hatten ein bisschen Landwirtschaft, der Vater arbeitete wie viele Tzschellner in der örtlichen Pappenfabrik. Martin Zschippang fiel der Abschied zu jener Zeit nicht ganz so schwer: "Wir waren jung. Für uns war das noch ein Erlebnis. Aber meine Eltern haben getrauert." Inzwischen sieht er das anders. Die Erinnerung an das, was damals verloren gegangen ist, mache ihn jetzt schwermütig.

Wir waren jung. Für uns war das noch ein Erlebnis. Aber meine Eltern haben getrauert. Martin Zschippang | Ehemaliger Tzschellner

Fast 300 Leute umgesiedelt

Wie ihm geht es vielen Tzschellnern, die Mitte der 1970er-Jahre als Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern ihr Dorf verlassen mussten. Die meisten der knapp 300 Einwohner sind ins rund zehn Kilometer entfernte Weißwasser gezogen. Für die jungen Leute war das Leben in der Stadt nach ihrer Kindheit im abgeschiedenen Dorf durchaus attraktiv: Sie kamen mit dem Bus überall hin, es gab ein Kino und mehr Möglichkeiten. Jetzt, fast 50 Jahre später, hätten sie gerne das Dorf ihrer Kindheit zurück.

Nur ein Gedenkstein ist geblieben

Geblieben sind ihnen 500 Quadratmeter von Tzschelln als offizieller Erinnerungsort. Dort, wo einst das Haus Nr. 37 stand, gibt es auf einer Wiese einen großen Gedenkstein und überdachte Picknicktische. Er gehört zu der Fläche, die damals nicht im Tagebau verschwunden ist.

"Hier ist der Ort, wo die Tzschellner wissen: Das ist unser Heimatboden", sagt Christina Wosch. Sie ist die Chefin des Heimatvereins Tzschelln, der erst 2007, also viele Jahre nach der Abbaggerung gegründet wurde. Einmal im Jahr im August treffen sich hier am Gedenkstein um die 80 Tzschellner, um gemeinsam bei einem Picknick zu feiern und sich zu erinnern.

Hier ist der Ort, wo die Tzschellner wissen: Das ist unsere Heimatboden. Christina Wosch | Heimatverein Tzschelln
Gruppenfoto ehemaliger Einwohner am Gedenkort für den Ort Tzschelln bei Weißwasser, der Ende der 1970er Jahre für den Tagebau Nochten abgebaggert wurde.

Im Jahr 2000 wurde der Gedenkstein an Tzschelln eingeweiht. Seitdem ist es der offizielle Erinnerungsort für die Tzschellner.

Umsiedlung bleibt emotionales Thema

Mit dabei ist auch Anke Beesk. Sie ist als Zehnjährige aus Tzschelln weg und hat den Abschied nie ganz verwunden, erzählt sie heute. Als junge Frau sei sie von Weißwasser weggezogen, aber nach 35 Jahren wieder zurückgekommen. Sie habe sich dann noch einmal ganz bewusst mit dem Tagebau und der Gegend hier beschäftigt, auch um einen Abschluss zu finden.

Ihr Elternhaus gehörte zu denen, die an der Tagebaukante standen und nur abgerissen wurden. Deshalb konnte sie dort vor ein paar Jahren nach Überresten suchen: "Ich habe noch zwei Badfliesen gefunden, wilde Erdbeerpflanzen, den Pflaumenbaum und zwei Zaunpfosten. Da kommen mir einfach die Tränen, für so einen kleinen Rest." Für sie sei es auch nach so langer Zeit noch ein sehr emotionales Thema.

Die Heimaterde fehlt

Verglichen mit damals hätten es die Menschen, die heute wegen des Tagebaus ihr Dorf verlassen müssen, sicher einfacher, findet Anke Beesk. In der DDR gab es nur wenig Entschädigung für die Grundstücke, die Leute mussten sich selbst kümmern. Doch eines sei damals wie heute gleich: Der Heimatboden sei weg. "Es ist nicht nur das Haus weg, es ist auch die Erde weg. Ich kann nicht auf den Grund und Boden gehen, wo ich mal gelebt habe und es meinen Kindern zeigen", sagt Anke Beesk. Doch dank des Zusammenhalts der Tzschellner bleiben die Erinnerungen wach und kommen neue dazu. Anke Beesk engagiert sich dafür auch im Heimatverein Tzschelln.

Tzschelln kennt man auch in Bonn

Dass Tzschelln und die Geschichte seiner Abbaggerung nicht vergessen werden, darum kümmert sich seit ein paar Jahren auch das Haus der Geschichte in Bonn. Dort werde das alte Bühnenbild aus dem Gasthaus in Tzschelln und das alte Ortsschild gezeigt, erzählt Vereinschefin Christina Wosch. Das Museum habe vor ein paar Jahren von Tzschelln in der Zeitung gelesen und sie daraufhin angerufen. Man habe nichts aus der Lausitz zu diesem Thema, ob man die Stücke bekommen könnte, hätten die Museumsleute gefragt: "Seitdem ist unser Ort mit Ortsschild und Bühnenbild in Bonn im Haus der Geschichte zu sehen." Er steht für das Schicksal der Dörfern, die dem Braunkohletagebau in der Lausitz zum Opfer gefallen sind.